Als ich fünfundzwanzig war, bin ich zu meiner ersten großen Reise aufgebrochen. Damals wollte ich mich selbst finden. Heute lache ich über alle, die das als Ziel einer Reise sehen. Sich selbst finden. Was soll denn dieses Selbst jenseits und losgelöst von der Welt, die mich formt, sein?
Aber 15 Jahre später, fast am Ende meiner letzten Reise, da habe ich mich dann doch aus Versehen gefunden.
Das war auf dem Weg von Ajun nach Peshawua. Zehn Stunden ging es durch die felsige, wüste pakistanische Landschaft in einem bis in die letzte Ecke gefülltem Auto. Zwei Leuten auf dem Beifahrersitz und vier auf der Rückbank, eine davon eine Frau in einer Burka. Elektronische Musik in meinen Ohren, wie ein feiner, erhebender Soundtrack zu meinem Leben, der leise aber drängend und bestimmt die Richtung wies und das Gras, das ich zuvor bei einem Pakistani mitgeraucht hatte, was besonders rein, beste Qualität aus Afghanistan sein sollte, machten, dass ich so herrlich wohlig und gemütlich warm in meinem Körper lag, dort zwischen all den Menschen, die Sonne warm durch das Fenster auf meiner Brust, als wir über den weiß verschneiten Pass fuhren, hinter dessen grau-weißen Bergen am pastellrosa Himmel die Sonne rot glühend unterging. In diesem Moment habe ich mich tatsächlich gefunden. Ganz klar, rein und still war ich. Wie ein Atemzug. Schön war dieser Moment.
Dann habe ich zu meinen Mitfahrern hinübergeschaut und in ihren Gesichtern standgeschrieben, wie sie in ihrem Leben lachen und straucheln und Geschichten erleben vom Weinen und Lieben, von Wut und von Hoffnung. So gar nicht gefunden, gar nicht klar und still.
Ich lächelte. Sich selbst finden, wer will das schon? Ich zweifele lieber und suche, frage und scheitere wieder und wieder, als da so gefunden vor mich hinzustrahlen. Dann habe ich wenigsten was, das ich in mein Tagebuch schreiben kann.
Ich bekenne hiermit, dass ich Tagebuch schreibe.
Ich bekenne hiermit, dass ich beschlossen habe, mir dabei zuzuschaue, wie ich als Protagonist durch meine eigene Geschichte laufe.
Und bekenne hiermit, dass ich fest glaube, dass Max Frischs Aussage, jeder Mensch würde früher oder später eine Geschichte erfinden, die er für seine eigene hält, wahr ist.
Dieses Selbst, von dem wir manchmal meinen, es erst finden zu müssen und deswegen oft auf große Reisen aufbrechen, dieses Selbst kann man ja doch nie finden, sondern nur bilden. Und zwar aus all den Geschichten, die wir uns selbst und anderen über uns erzählen.
Und somit ist die ganze Menschheit eigentlich nichts anders ist als eine Ansammlung wandelnder Geschichten, die über diesen Planten irren. Während wir da alle so durch Zeit und Raum vorwärts streben, ziehen wir unsere Geschichtsfäden wie Schleppen hinter uns her, sodass die ganze Erde von einem monströsen Geschichten-Netz überzogen und darin gänzlich verwoben ist. Ein amorphes, sich in ewiger Bewegung befindliches Netz, das unentwegt seine Form verändert, Stränge aufbaut, Verdichtungen bildet und wieder auflöst. Ein wildes, klebriges Ding, in dem wir alle gefangen und alle verbunden sind. Und so wie wir unser Selbst und unsere Identität aus Geschichten weben, genauso weben wir aus diesen unseren kollektiv gesammelten Geschichten das, was wir für die Wirklichkeit halten.