Ich beginne die folgende Geschichte in dem Moment zu erzählen, als ich mit fünfundzwanzig Jahren von meiner ersten großen Reise zurückkehrte. Damals bin ich zu dieser Reise aufgebrochen, wie man das in diesem Alter und vielleicht auch danach noch tut, um die Welt zu entdecken und viel wichtiger: Um mich selbst zu finden.
Heute lache ich über alle, die das als Ziel einer Reise sehen. Sich selbst finden. Was soll denn dieses Selbst jenseits und losgelöst von der Welt, die mich formt, sein?
Fast am Ende meiner letzten Reise, da habe ich mich dann aber doch aus Versehen gefunden.
Das war auf dem Weg von Ajun nach Peshawua. Zehn Stunden ging es durch die felsige, wüste pakistanische Landschaft in einem bis in die letzte Ecke gefülltem, zerbeultem Auto. Zwei Leuten auf dem Beifahrersitz und vier auf der Rückbank. Elektronische Musik in meinen Ohren, wie ein feiner, erhebender Soundtrack zu meinem Leben, der leise aber drängend und bestimmt die Richtung weist und das Hasch, das ich zuvor bei einem Pakistani mitgeraucht hatte, das besonders reine, beste Qualität aus Afghanistan sein sollte, machten, dass ich so herrlich wohlig und gemütlich warm in meinem Körper lag, dort zwischen all den Menschen. Die Sonne warm durch das Fenster auf meiner Brust, als wir über den weiß verschneiten Pass fuhren, hinter dessen grau-weißen Bergen am pastellrosa Himmel die Sonne rotglühend unterging. In diesem Moment habe ich mich tatsächlich gefunden. Ganz klar, rein und still war ich. Wie ein Atemzug. Schön war dieser Moment.
Dann habe ich zu meinen Mitfahrern hinübergeschaut und in ihren Gesichtern standgeschrieben, wie sie in ihrem Leben lachen und straucheln und Geschichten erleben vom Weinen und Lieben, von Wut und von Hoffnung. So gar nicht gefunden, gar nicht klar und still.
Ich lächelte. Und erkannte in diesem so klaren, stillen Moment: Mich selbst finden, eigentlich will ich das gar nicht. Ich zweifele lieber und suche, frage und scheitere wieder und wieder, als da so gefunden vor mich hinzustrahlen. Sonst hätte ich schließlich nichts, das ich in mein Tagebuch schreiben könnte.
Ich bekenne hiermit, dass ich Tagebuch schreibe.
Ich bekenne damit, dass es mir ein großes Vergnügen bereitet, jenen Moment meines Lebens nicht nach seinem Erfolg, sondern nach seinem literarischen Wert zu beurteilen und diese, meine Geschichte niederzuschreiben.
Und bekenne hiermit, dass ich fest glaube, dass Max Frischs Aussage, jeder Mensch würde früher oder später eine Geschichte erfinden, die er für seine eigene hält, wahr ist.
Dieses Selbst, von dem wir manchmal meinen, es erst finden zu müssen und deswegen oft auf große Reisen aufbrechen, dieses Selbst kann man ja doch nie finden, sondern nur bilden. Und zwar aus all den Geschichten, die wir uns selbst und anderen über uns erzählen.
Und somit ist die ganze Menschheit eigentlich nichts anders ist als eine Ansammlung wandelnder Geschichten, die über diesen Planten wandeln. Während wir da alle so durch Zeit und Raum vorwärtsstreben, ziehen wir unsere Geschichtsfäden wie Schleppen hinter uns her, sodass die ganze Erde von einem monströsen Geschichten-Netz überzogen und darin gänzlich verwoben ist. Ein amorphes, sich in ewiger Bewegung befindliches Netz, das unentwegt seine Form verändert, Stränge aufbaut, Verdichtungen bildet und wieder auflöst. Ein wildes, klebriges Ding, in dem wir alle gefangen und alle verbunden sind. Und so wie wir unser Selbst und unsere Identität aus Geschichten weben, genauso weben wir aus diesen unseren kollektiv gesammelten Geschichten das, was wir für die Wirklichkeit halten.
Aber in diesem Moment, von dem ich im Folgenden berichten werde, an dem ich vor nunmehr fünfzehn Jahren, von dieser ersten Reise zurückkam, auf der ich mich selbst finden wollte, und mit einem tiefen Seufzer der eingestandenen Niederlage meinen Füller auf die erste unberührte, weiße Seite des neuen, leeren Buches setzte und das Datum des damaligen Tages niederschrieb, um nach einem halben Jahr der Abstinenz wieder dem erniedrigenden und im Grunde verdammenswerten Geschäft des Tagebuchschreibens, wie Chateaubriand es nennt, nachzugehen, da gestand ich mir zwar schon mein in Geschichten zersplittertes Selbst ein, aber tat es noch nicht, wie ich es heute tue, in dem alles erhebenden Gefühl, ganz wachen Geistes an diesem Geschichten-Netz mitzuwirken, das sich mit all den anderen Geschichten zu unserer Wirklichkeit fügt.
Ich fühlte mich dabei mehr, als würde ich mich als Held meiner eigenen Geschichte wie Atreju in der Unendlichen Geschichte auf die große Suche schicken. Immer noch nach mir selbst, vielleicht auch nach der Wahrheit oder ähnlich absurden Dingen.